Controllability bei autonom fahrenden Fahrzeugen

Was müsste sich bei der ISO 26262 ändern?

14.11.2022
Jörg Schacht 

Bei der Erstellung der HARA innerhalb der ISO 26262 werden drei Summanden bestimmt. Die Severity (S0 bis S3), die Exposure (E0 bis E4) und die Controllability (C0 bis C3). Daraus ergibt sich dann durch das Aufsummieren der Summanden die ASIL-Klassifizierung. Wenn die Zahlen zusammen 10 ergeben, dann haben wir einen ASIL D.

Bei der Controllability gehen zurzeit die Beschreibungen davon aus, dass hauptsächlich der Fahrer des Fahrzeugs die Beherrschbarkeit der Situation besonders stark beeinflussen kann. Aber im Falle, dass das Fahrzeug automatisiert (SAE Level 1 bis 3) oder sogar autonom (SAE Level 4 und 5) unterwegs ist, entfallen immer mehr die Einflussmöglichkeiten des Fahrers, so dass nach dieser Bewertung ein autonomes Fahrzeug (in den allermeisten Fällen) grundsätzlich mit einer C3 gewertet werden müsste.

Aber das kann ja so nicht ganz stimmen, denn autonom fahrende Fahrzeuge sollten ja grundsätzlich sicherer sein als von Menschen gesteuerte Fahrzeuge.

Jetzt steht allerdings auch ein ganz wichtiger Hinweis in der aktuellen Norm. Die Bewertung innerhalb der HARA hat ohne die zu Hilfenahme von schon geplanten oder sogar installierten Sicherheitsmaßnahmen zu erfolgen. Das gilt allerdings immer nur für das aktuell betrachtete System. Andere, unabhängige Systeme dürfen allerdings durchaus zur Risikominimierung herangezogen werden. Siehe dazu ISO 26262-3:2018, 6.4.1 Einleitung der Gefahrenanalyse und Risikobewertung.

Das würde also für ein autonom fahrendes Fahrzeug bedeuten, dass zum Beispiel bei der Bewertung eines Kamerasystems zwar keine Maßnahmen innerhalb des Kamerasystems berücksichtigt werden dürfen, aber durchaus Systeme wie LIDAR, RADAR, Ultraschall oder auch Infrarot zur Minimierung der Gefahrenbeurteilung herangezogen werden können. Dabei muss natürlich sehr genau betrachtet werden, welche Aufgaben des Kamerasystems tatsächlich von anderen Sensoren adäquat übernommen werden können.

Aber die redundanten Systeme könnten sich ja dann zum Beispiel bei der Beherrschbarkeit der Situation bemerkbar machen.

Daher müssen wir uns meiner Meinung nach ernsthafte Gedanken machen, wie wir solche Szenarien in die Bewertung von HARAs für autonom fahrende Fahrzeuge aufnehmen können. Denn zurzeit sehe ich einfach viele verschiedene Versuche, auf die Situation zu reagieren. Und die wenigsten davon halte ich für wirklich zielführend.

Ich versuche es mal mit einem Beispiel: Ich möchte gerne mein Auto autonom in meine Garage einparken. Dazu muss ich jetzt mein Kamerasystem betrachten, das mir Informationen gibt, so dass ich auch tatsächlich zwischen den seitlichen (baulichen) Begrenzungen in die Garage reinpasse und mir nicht die Spiegel abfahre und / oder den Lack zerkratze.

Jetzt habe ich vielleicht noch weitere Sensoren an Bord. Gehen wir mal von Ultraschall und LIDAR aus.

Der Ultraschallsensor ist dabei sicherlich mit Vorsicht zu genießen, denn er wird (ähnlich wie heute bei der Einparkhilfe) zwar sagen, dass da etwas ist, aber ob er so genau ist, dass er zwischen dem Fahrweg und der restlichen Umgebung unterscheiden kann, wage ich ernsthaft zu bezweifeln. Sehr wahrscheinlich wäre dann spätestens 10 cm vor der seitlichen Garagenwand Schluss, weil der Ultraschallsensor sein Veto einlegt.

Bei unserem LIDAR-System könnte das schon anders aussehen. Das System sollte eigentlich den freien Ausschnitt der Garagen-Silhouette erkennen und bei groben Fehlern des Kamerasystems unterstützend eingreifen können. Und genau DAS sollte sich dann in der Bewertung der Controllability niederschlagen und zu einer besseren Gesamteinstufung bei der ASIL-Klassifizierung führen.

Natürlich bin ich jetzt kein absoluter Spezialist für diese ganzen angesprochenen Systeme. Es soll ja auch nur ein Beispiel sein. Aber ich würde mich natürlich sehr über hilfreiche, fachliche Kommentare sowohl zum Thema ISO 26262 als auch zu den von mir erwähnten Systemen freuen.

Jörg Schacht (geschäftsführender Gesellschafter, i-Q Schacht & Kollegen Qualitätskonstruktion GmbH)

i-Q_Controllability-bei-autonomen-Fahrzeugen_2022.pdf
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