FMEA-Maßnahmen unterscheiden

Im Beitrag geht es um den Bereich der FMEA-Erstellung, der den Beteiligten oft genug die Zeit für wirklich wichtige Diskussionen raubt. Bei der Erstellung einer FMEA gibt es immer wieder einige „Knackpunkte“, die zu endlosen Diskussionen in der Gruppe führen können. Dazu gehören unter anderem die Themen: „Was ist ein Fehler?“, oder aber auch: „Wo trage ich welche Information ein?“. Mit der letzten Frage beschäftigt sich der Autor des Beitrags, Dipl.-Ing. Jörg Schacht, hier etwas genauer.

03.11.2017
Jörg Schacht

Mit der Frage „Wo trage ich welche Information ein?“ will ich mich heute am Beispiel der Vermeidungsmaßnahmen und der Entdeckungsmaßnahmen beschäftigen. Einigen wir uns zu Beginn auf die Definition der folgenden Begriffe:

  • Eine Vermeidungsmaßnahme dient dazu, die Auftretenswahrscheinlichkeit der Ursache zu verringern bzw. sie so gut wie unmöglich zu machen, und zwar bevor das befürchtete negative Ereignis eintritt.
  • Eine Entdeckungsmaßnahme dient dazu, einen schon gemachten Fehler zu entdecken, um dann die Möglichkeit zu haben, den Fehler zu beheben bzw. auszusortieren.

In einem Produktionsprozess ist diese Unterscheidung relativ einfach zu treffen. Nehmen wir das Beispiel, dass ich ein senkrechtes Loch in einen Vollmaterial Block bohren möchte, und zwar mit definierten Abständen zu den Rändern.
Alles, was ich jetzt mache, um sicherzustellen, dass sich das Loch an der richtigen Stelle befinden wird (bevor ich den Bohrer in Betrieb nehme), ist eine Vermeidungsmaßnahme:

  • Regelmäßige Säuberung der Auflagefläche
  • Formschlüssige Auflage für das Werkstück
  • Überprüfung der Lage (mit einem Lasertaster) nach dem Einspannen des Teils
  • usw.

Nachdem ich dann das Loch gebohrt habe, kommen meine Entdeckungsmaßnahmen zum Einsatz, mit Hilfe derer ich ein NOK Loch erkennen kann. Zu diesen Entdeckungsmaßnahmen gehören unter anderem:

  • Nachmessen der Abstände zu den Rändern
  • Überprüfung der Lotrechten des Loches
  • Abstecken der Lochgröße mit einer konischen Lehre
  • usw.

Und auf Grund der Ergebnisse wird dann entschieden, ob das Teil OK ist, nachgearbeitet werden kann (muss) oder verschrottet werden muss.

Aber das gleiche Thema (Vermeidung / Entdeckung) existiert auch in der Konstruktion bzw. bei der Erstellung einer System- und/oder Design-FMEA. Doch hier tun sich alle Beteiligten wesentlich schwerer eine saubere Abgrenzung hinzubekommen.

Dazu ein kleines Beispiel: Nachdem ich ein Gehäuse konstruiert habe, lasse ich die Daten durch eine FEM (Finite Element Methode) durchlaufen. Diese Simulation zeigt mir jetzt an zwei Stellen eine Spannungsüberhöhung auf Grund von ungeschickt gewählten Geometrien. Handelt es sich jetzt dabei um eine Vermeidungsmaßnahme oder eine Entdeckungsmaßnahme?

Eigentlich kann ich diese Frage ohne weitere Definitionen nicht eindeutig beantworten. Sie kennen das Dilemma aus einem anderen Bereich des Lebens: Was ist der Airbag - eine vorbeugende Maßnahme oder eine Eventual-Maßnahme? Auch diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, denn es fehlt mir das Ereignis, auf das ich mich beziehen möchte:

  • Für das Ereignis „Unfall“ ist der Airbag eine Eventual-Maßnahme, die erst greift, wenn die Sensoren melden, dass es schon gekracht hat.
  • Für das Ereignis „Kopf trifft auf das Lenkrad“ ist der Airbag eine vorbeugende Maßnahme, denn der Luftsack bläst sich frühzeitig auf und verhindert dadurch den direkten (harten) Kontakt zwischen Kopf und Lenkrad.
* *

Der Zeitpunkt der Betrachtung entscheidet über die Maßnahme Vermeidung oder Entdeckung

Gehen wir zurück in unsere Entwicklungsabteilung. Wir müssen definieren, von welchem Zeitpunkt aus wir dokumentieren wollen, ob es sich um Vermeidung oder Entdeckung handelt. Ich mache daher alle Betrachtungen an der Existenz von konkreten Teilen fest. In dem Moment, in dem der Prototyp des Gehäuses bei mir auf dem Schreibtisch steht und ich daran feststelle, dass etwas nicht in Ordnung ist, habe ich eine Entdeckungsmaßnahme.

Daraus resultiert aber auch, dass es sich bei der Simulation um eine Vermeidungsmaßnahme handeln muss, denn zu diesem Zeitpunkt haben wir nur Daten und keinen handfesten Prototyp auf dem Tisch.

Gehen wir jetzt für die FMEA-Experten noch einen weiteren Schritt:

  • Wenn ich eine Design Verification (DV) mit einem B-Muster durchführe, dann handelt es sich dabei um eine Entdeckungsmaßnahme innerhalb der D-FMEA für das B-Muster.
  • Gehe ich dann in die C- bzw. D-Muster Phase, wird aus der DV mit dem B-Muster jetzt eine Vermeidungsmaßnahme für die D-FMEA in der C-Muster Phase. Denn ich erlange ja diese Erkenntnisse aus dem B-Muster, bevor ich ein C-Muster tatsächlich auf dem Tisch habe.

Diese Unterscheidung war bisher in meinen Workshops immer sehr hilfreich und auch die FMEA-Teilnehmenden konnten die Logik sehr einfach nachvollziehen. So haben wir uns Zeit für wirklich wichtige Diskussionen geschaffen."

Fragen? Anregungen? Anderer Meinung? Der Autor freut sich über jeden Beitrag zu diesem Artikel, der auch gern als Kommentar veröffentlicht werden kann - diskutieren Sie mit!

Autor: Jörg Schacht, FMEA-Moderator, QM-Trainer und Functional Safety Manager (AFSE); Inhaber der i-Q Schacht & Kollegen Qualitätskonstruktion GmbH

1 Kommentar(e)
  • Riccardo Stüber24.01.2020 07:01

    Gut geschrieben! Kann ich auch voll mitgehen. Es ist immer eine Frage des (zeitlichen) Standpunktes, als was man etwas betrachten kann. Würde man immer nur von einem Maßnahmenstand reden und die Unterscheidung gar nicht mehr treffen müssen, denn sie hat im Grunde keinen Nutzen. Vermeidung bedeutet in der Regel, irgendein vorhandenes Wissen anzuwenden. Entdecken dagegen, im Grunde Wissen zu erzeugen. Wenn ich beides kombiniere, kann ich eine Auftretenswahrscheinlichkeit fundiert bewerten, die ich für das technische Risiko benötige. Zumindest im Design sehe ich E als überflüssig, weil mich letztlich nur das technische Risiko B zu A interessiert. Dieses muss natürlich fundiert sein. Und das kann es auch, wenn ich nicht zusätzlich noch E-Maßnahmen treffe, wenn man zum Beispiel eine sehr sichere Vermeidungsmaßnahme hat.

    Im Prozess dient E dagegen dem Schutz des Kunden vor fehlerhaften Produkten und hat somit einen Sinn.